
Selbstbestimmt und selbstwirksam: Wie Kinder im Alltag partizipieren können

„Die muss aber noch viele Butterbrote essen, bis sie groß ist.“
Das hat meine Oma nach meiner Geburt über mich gesagt.
Sie hatte Recht, denn ich kam vier Wochen zu früh und war wirklich sehr zart. Trotzdem muss ich über diese Aussage schmunzeln, weil sie im Kern widerspiegelt, was die Menschen damals und zum Teil auch heute noch denken: Dass Kinder erst noch „etwas werden“ müssen. Dabei sind sie von Anfang an gut und richtig – genau so, wie sie sind.
Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen
Was uns oft in die Quere kommt, wenn wir versuchen, das anzuerkennen, ist unser Drang nach Perfektion: Pläne, Regeln, Normen – davon abzuweichen scheint uns falsch. Dabei ist genau das der Weg, den unsere Kinder einschlagen müssen, um zu sich zu finden. Sie müssen sich ausprobieren dürfen. Sie wollen testen, experimentieren und dürfen dabei durchaus scheitern. Denn daraus lernen sie. Deshalb ist es so wichtig, unsere Kinder im Alltag selbstwirksam sein zu lassen. Wir müssen ihnen die Chance geben, teilzuhaben. Sie müssen Dinge aktiv mitgestalten und auch alleine handeln dürfen. Auch wenn es oft vielleicht nicht unseren Ansprüchen genügt. Aber es muss klar sein: Es sind unsere Ansprüche – an UNS. Wir dürfen bei unseren Kindern nicht den gleichen Maßstab ansetzen. Wenn sie den Tisch decken und Messer und Gabel nicht an der richtigen Stelle liegen, ist es trotzdem ein perfekt gedeckter Tisch. Weil das Kind dadurch erfahren hat, dass es wichtig ist, dass es selbst etwas bewirken und erreichen kann.
Kinder Entscheidungen treffen lassen
Ich versuche, solchen Momenten für meine Kinder täglich Raum zu geben. Das beginnt beim morgendlichen Anziehen. Für einen Kleiderschrank frei nach Maria Montessori, in dem sich nur wenige Kleidungsstücke befinden, dafür alle passend zur Jahreszeit, fehlt uns leider der Platz. Wir haben nur einen riesigen Schrank für beide Kinder zusammen, in dem sie leider auch nicht selbstständig an alle Teile heran kommen. Und trotzdem kann ich sie mit einbeziehen: „Welches T-Shirt möchtest du heute anziehen? Das Rote oder das Gelbe?“, „Möchtest du gerne ein Kleid anziehen oder eine kurze Hose?“, „Welche Socken willst Du tragen?“. So können sie selbst Entscheidungen treffen – und trotzdem habe ich noch im Griff, dass die Püppi bei 30 Grad nicht die gefütterte Jeans anzieht. Wobei ich auch da versuche, lockerer zu werden. Wenn meine Kinder unbedingt etwas tragen wollen, von dem ich denke, es ist zu kalt oder zu warm für die aktuellen Wetterverhältnisse, lasse ich sie dennoch die Entscheidung treffen. Ich erkläre ihnen zunächst, dass sie in der langen Hose schwitzen könnten. Doch wenn sie trotzdem darauf bestehen, lasse ich sie ihre eigenen Erfahrungen machen. Denn es ist ihr Körper und jeder empfindet anders. Was für den Einen zu kalt ist, kann sich für den Anderen bullig warm anfühlen.
In unserem Kindergarten gab es mal einen Jungen, der trug immer kurze oder Dreiviertel-Hosen – egal ob die Sonne schien, es regnete oder sogar schneite. Für ihn war es angenehm. Er brauchte diese Beinfreiheit – und seine Mutter ließ sie ihm. Das fand ich wunderschön.
Natürlich bereite ich mich vor: Wenn die Püppi im Hochsommer mit einem dicken Pullover das Haus verlassen will, nehme ich ein Reserve-T-Shirt mit. Manchmal frage ich nach einer Weile, ob sie nun doch lieber etwas Luftigeres anziehen möchte – häufig meldet sie sich aber ganz von selbst. Weil Kinder schon ganz gut für sich sorgen können.
Perfektion: Ein menschlicher Makel
Wenn sie es schon können, finde ich es außerdem wichtig, dass Kinder sich eigenständig aus- und wieder anziehen dürfen. Zum Einen, weil sie selbstbestimmt mit ihrem Körper umgehen sollen. Zum Anderen, weil es ein Erfolgserlebnis für sie ist, wenn sie es schaffen. Beim Großen führt das immer noch regelmäßig dazu, dass er T-Shirts oder Hosen falsch herum trägt, Hemdknöpfe auslässt oder Farbkombinationen auswählt, die fast schon im Auge schmerzen. Doch er hat Selbstwirksamkeit erfahren und darf darauf zu Recht stolz sein.
Ich gebe zu: Manchmal erwische ich mich dabei, wie ich Anderen gegenüber anfange, mich zu rechtfertigen. „Er hat sich heute selbst angezogen!“, „Er wollte das unbedingt so tragen!“. Und im selben Moment ärgere ich mich über selbst. Warum kann es mir nicht egal sein, was andere denken? Wenn sie finden, dass sein Outfit eine Katastrophe ist, ist das schließlich ihr Problem. Doch diese falsche Scham sitzt einfach tief in vielen von uns. Ich habe dann das Gefühl, nicht gut für mein Kind gesorgt zu haben, meine Pflicht nicht erfüllt zu haben. Dabei ist es nicht meine Pflicht, ein perfekt angezogenes Kind im Kindergarten abzuliefern, sondern vielmehr, mein Kind zu einem selbstständigen, selbstbewussten jungen Menschen zu erziehen. Und dazu gehört, es seinen Alltag aktiv und selbstbestimmt gestalten zu lassen.
Beim Frühstück geht es genau so weiter: „Welches Müsli möchtest du gern?“, „Soll ich dir Äpfel oder Trauben hineinschneiden?“. Ich nehme Einfluss – darauf, dass sie sich nicht ausschließlich von Nutella-Broten ernähre und doch lasse ich ihnen Raum für eigene Entscheidungen.
In die Nachmittagsplanung beziehe ich sie ebenfalls mit ein, was bedeutet, dass ich gefasste Pläne auch mal kippe. Wenn meine Kinder partout lieber zu Hause spielen wollen, anstatt eine Tour mit dem Kickboard zu machen, dann gebe ich nach. Denn frische Luft ist zwar wichtig, aber nicht um jeden Preis. Am nächsten Tag gehen sie dann meist auch gern wieder raus.

Fremdbestimmung: Das kindliche täglich Brot
Wir Erwachsenen haben eine unglaubliche Macht, die wir täglich ausüben. Wir treffen so viele Entscheidungen für unsere Kinder, die sie ohne Murren hinnehmen. Doch das übersehen wir gerne. Wir sehen nur die eine Situation am Tag, in der sich das Kind aufbäumt, in der er es sich nicht mehr fügen, sondern eigenständig entscheiden will. Und behaupten dann noch: „Es kann nicht immer nach deinem Kopf gehen!“ Dabei kooperieren unsere Kinder häufig und sogar gerne mit uns. Wir erkennen es nur nicht immer.
Auf dem Spielplatz sehe ich häufig Eltern, die sich nicht anders zu helfen wissen: Die bereits mehrfach gesagt haben „Wir gehen jetzt!“ – und das Kind kommt trotzdem nicht. Da rutscht er schnell raus, dieser Satz: „Dann gehe ich jetzt ohne Dich!“. Eine ganz schlimme Drohung. Sie spielt mit einer tiefen Angst des Kindes, denn es ist auf seine Eltern angewiesen. Das Fatale ist, dass diese Drohung meist den gewünschten Effekt bringt: Das Kind kooperiert in der Regel sofort – aber nicht aus eigenem Antrieb, aus echter Kooperationsbereitschaft heraus. Es hat schlichtweg Angst vor den Konsequenzen, vor dem Alleinsein und möglichen anderen Sanktionen.
Was sich in solchen Situationen bei uns bewährt hat? Dass ich mein Bedürfnis rechtzeitig ankündige! „Wir müssen gleich gehen!“, „Noch zwei Mal rutschen!“ etc. Außerdem plane ich direkt Ausnahmen ein. Ich kalkuliere von vorneherein mit ein, dass aus zwei Malen vier oder fünf werden (dürfen). Meine Kinder fühlen sich dann ernst– und wahrgenommen. Ich drohe nicht an, alleine zu gehen, wenn sie auch danach nicht kommen, sondern teile ihnen mit, dass ich schon mal ein Stück vorausgehe, während sie noch ein Mal rutschen und dann bitte nachkommen sollen. Sie wissen, dass ich nicht ohne sie gehen würde, aber ich habe klar kommuniziert, DASS wir jetzt gehen – unter Achtung ihrer Bedürfnisse. Für uns funktioniert es gut so. Meine Kinder kooperieren dann meist sogar gerne.
Woran können wir arbeiten?
Wir haben so viele Chancen, kindliche Bedürfnisse und Wünsche im Alltag ernst zu nehmen und zu berücksichtigen, unsere Kinder Entscheidungen treffen und sie ihre eigenen Erfahrungen machen zu lassen. Wir müssen sie nur nutzen!
Beobachtet Euch einfach mal einen Tag lang selbst! Nehmt bewusst wahr, wann ihr Entscheidungen für Eure Kinder trefft und wie ihr sie trefft! Lasst ihr ihnen Spielraum, zu partizipieren? Gebt ihr ihnen die Gelegenheit, selbstwirksam zu sein? Wäre ihr Weg auch ein möglicher Weg gewesen, den ihr beim nächsten Mal vielleicht gemeinsam einschlagt?
Ich bin gespannt, was sich dadurch bei euch ergibt! Ich persönlich lerne täglich dazu und ärgere mich nicht mehr über mich, wenn ich nicht perfekt war – stattdessen freue ich mich, dass ich mich verbessern kann!


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