
Selbstbewusst = unerzogen? Von wegen!
Wer bedürfnisorientiert erzieht, wird oft mit Vorurteilen konfrontiert: Ob einem der Nachwuchs nicht auf der Nase herumtanzt, wenn man ihn wie einen kleinen Erwachsenen behandelt? Wie Kinder so überhaupt Grenzen kennenlernen sollen? Dass es ihnen später im Leben auf die Füße fallen würde, weil sie verweichlicht seien. Manche behaupten sogar, bedürfnisorientierte Erziehung beruhe auf der Gemütlichkeit der Eltern – sie hätten einfach keine Lust, ihre Kinder zu erziehen.

Ich sehe es genau entgegengesetzt und glaube, es braucht viel mehr Anstrengung, die Bedürfnisse seiner Kinder zu achten und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen, als einfach eine unverrückbare Entscheidung zu treffen, die von ihnen hingenommen werden muss. Es erfordert Einfühlungsvermögen, Verständnis, Geduld und Zeit – die im Alltag meist fehlt. Aber ich nehme sie mir. Weil ich meine Kinder respektiere. Und weil ich glaube, dass „Attachment Parenting“ sie stark fürs Leben macht. Sie lernen von Geburt an, dass ihre Wünsche von Belang sind. Was sie fühlen, wovor sie Angst haben, was sie brauchen – all das ist wichtig. Das zu spüren und zu erkennen, stärkt das kindliche Selbstwertgefühl und ihr Selbstvertrauen. Eine Grundvoraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben.
K(l)eine Tyrannen – Kinder sind offen für Gespräche auf Augenhöhe
Natürlich kommt es vor, dass ich mit dem Großen „diskutiere“. Niemals darüber, ob er auf eine viel befahrene Straße laufen oder andere Kinder verletzten darf. Aber es gibt genügend Situationen, in denen Gespräche auf Augenhöhe möglich sind. Wo Andere vielleicht einfach entscheiden: „Wir waschen jetzt Haare!“, bespreche ich das mit ihm. In der Regel ist er zugänglich für gute Argumente. Er reagiert oft vernünftig, wenn ich ihn daran erinnere, dass wir das Haarewaschen schon beim letzten Mal haben ausfallen lassen und es jetzt wieder an der Zeit wäre. Manchmal schließen wir auch Kompromisse. Wir einigen uns zum Beispiel darauf, dass wir das Shampoonieren dafür beim nächsten Mal wieder überspringen. Und manchmal bleibt er auch bei seinem Nein. Doch es ist sein Körper. Ich akzeptiere das. Er steht für sich und seine Bedürfnisse ein, teilt klar mit, was er möchte und was nicht – und genau das wünsche ich mir für meine Kinder.
Warum Kinder „Nein“ sagen sollten
Kinder müssen lernen, dass ihr Körper ihnen alleine gehört. Zur Prävention von (sexuellem) Missbrauch ist das unabdingbar. Wenn wir im Alltag darauf achten, die Grenzen unserer Kinder zu wahren und akzeptieren, wenn sie „Nein“ sagen, stärken wir damit ihre Gefühlswahrnehmung. „Wenn Kinder erfahren haben, wie es sich anfühlt, wenn ihre Abgrenzungswünsche respektiert werden, fällt es ihnen leichter zu erkennen, wenn Andere versuchen, ihre Grenzen zu überschreiten. (…) Abgrenzungswünsche der Kinder sollten natürlich nicht nur von den Eltern akzeptiert werden – auch das restliche Umfeld sollte mitspielen. Denn die Stärkung des Kindes gelingt umso besser, je mehr Leute daran mitarbeiten. Wenn sich ein Kind zum Beispiel wegdreht, wenn die Oma ihm einen Begrüßungskuss geben will oder es sogar aktiv sagt, dass es nicht geküsst werden will, dann darf dieses Signal nicht ignoriert werden.“ (siehe auch meinen Gastbeitrag: „Mein Körper gehört mir!: Prävention von sexuellem Missbrauch“)
Langfristig ist ein gutes Selbstvertrauen aber nicht nur der Schlüssel zur Vorbeugung von Missbrauch (und Mobbing!): Es ist auch die Basis für ein suchtfreies Leben. Selbstbewusste Kinder, die gelernt haben, ihren Gefühlen zu vertrauen und entsprechend „Nein“ zu sagen, halten vermeintlichen Versuchungen wie Drogen, Zigaretten und Alkohol auch unter Gruppenzwang besser stand. Denn auch, wenn der Alkoholkonsum junger Menschen letztes Jahr zurück gegangen ist: Im internationalen Vergleich zählt Deutschland weiterhin zu den Hochkonsumländern, was den alkoholischen Pro-Kopf-Verbrauch angeht (siehe hier). Jugendliche müssen sich hier abgrenzen – und das lernen sie am Besten in der frühen Kindheit.
In der Entwicklungspsychologie gibt es Anhaltspunkte dafür, dass Kinder mit einem hohen Selbstwertgefühl später oft erfolgreicher sind im Leben: Sie machen Karriere, haben mehr Freunde und führen glücklichere Beziehungen. Denn sie sind mit sich selbst im Reinen, laufen nicht vor Problemen weg, sondern gehen sie konstruktiv an. Außerdem leiden selbstbewusste, gestärkte Kinder später seltener an seelischen Krankheiten. Burnout, Depressionen und auch Borderline-Störungen haben ihren Ursprung nämlich oft in der Kindheit und gehen auf eine Störung der Gefühlsregulation zurück. Sie entsteht, wenn Eltern die Gefühle ihrer Kinder nicht achten, ihnen sogar vermitteln, sie seien falsch (siehe auch: „Kinder trösten: Vom Pusten und Küssen“).
Wie wir unsere Kinder stärken können

Ein gutes Selbstbewusstsein zeugt also nicht von einem „Dickkopf“ oder schlechter Erziehung. Es ist vielmehr ein geschaffener Grundpfeiler in der kindlichen Entwicklung. Kinder müssen sich selbst lieben. Das können sie aber nur, wenn sie spüren, dass sie bedingungslos geliebt werden. Wir sollten unsere Kinder also immer Ernst nehmen: In jedem Schmerz, jeder Wut, bei jedem Wunsch und in jedem „Nein“.
Kinder brauchen emotionale Zuwendung. Körperlich, indem wir sie in den Arm nehmen. Aber auch beiläufige Gesten sind ein Zeichen unserer Zuneigung. So vermittelt schon ein kurzes über den Rücken oder durch das Haar Streicheln emotionale Wärme.
Kinder brauchen Lob und Anerkennung, allerdings in Maßen. Da einem Lob immer vorausgeht, dass Kinder etwas geleistet oder neu gelernt haben („Toll, du kannst jetzt hüpfen!“), „kann das im Laufe der Zeit dazu führen, dass sie das Gefühl entwickeln, dass die elterliche Liebe nicht wirklich bedingungslos ist. Schließlich wird unterbewusst für sie der Eindruck erweckt, dass irgendwie immer etwas ‚vollbracht‘ werden muss, um eine deutlich erkennbare Zuwendung zu erhalten.“ (siehe auch: „Warum wir unsere Kinder nicht loben sollten“). Studien, die diese These eindeutig belegen, gibt es noch nicht – mir erscheint vieles an ihr aber einleuchtend. Und trotzdem möchte ich es nicht komplett einstellen, meine Kinder zu loben. Meine Priorität ist jedoch, ihnen täglich Momente ungeteilter Aufmerksamkeit zu schenken (ohne Handy in der Hand!). Ich spiele mit ihnen und zeige ernsthaftes Interesse: „Wie fühlst Du Dich?“, „Was beschäftigt Dich heute?“.
Unsere Kinder müssen wissen, dass wir sie genauso lieben, wenn sie an etwas scheitern. Wir müssen für sie da sein, ihnen Mut zusprechen, wenn sie sich mutlos fühlen: „Du schaffst das!“, „Ich glaube an Dich!“. Gleichzeitig dürfen wir sie nicht überfordern und müssen ihnen bei Misserfolgen eine Stütze sein. „Nicht schlimm!“, „Vielleicht klappt es beim nächsten Versuch!“.
Kinder werden ab dem zweiten Lebensjahr autonom. Sie wollen selbstständig handeln dürfen und diese Selbstständigkeit müssen wir fördern. Auch wenn es länger dauert, wenn das Kind sich die Schuhe alleine anziehen oder den Tisch decken möchte: Es ist eine wichtige Investition in die Selbstwirksamkeit des Kindes. Es erkennt, dass es in der Lage ist, etwas zu schaffen, eigenständig etwas zu bewirken und das gibt ihm Selbstvertrauen.
Genauso müssen wir unsere Kinder soziale Kompetenzen selbst erlernen lassen: Als Eltern ist man schnell versucht, in das Spiel des Kindes einzugreifen – wenn es einem anderen Kind beispielsweise ein Spielzeug „klaut“. Doch nur, wenn wir es ungestört agieren lassen, kann es den Konflikt mit seinem Gegenüber eigenständig auflösen. Bei Körperlichkeiten sollten Eltern natürlich weiterhin reagieren.
Zu guter Letzt: Auch Sport stärkt Kinder. Auf der einen Seite körperlich – aber Sport kräftigt nicht nur Muskeln und Knochen, sondern auch das Selbstbewusstsein. „Bewegte“ Kinder trauen sich auf Dauer immer mehr zu, werden also mutiger und bekommen nebenbei noch ein Ventil zum Abbau von Stress und Aggressionen.
Bücher, die Kinder stark machen:
Thema Mut / Selbstbewusstsein:
„Kim kann stark sein“* von Elisabeth Zöller (ab 3 Jahren)
„Der Löwe in Dir“* von Rachel Bright (ab 2 Jahren)
„Trau Dich, Koalabär“* von Rachel Bright (ab 2 Jahren)
Thema Abgrenzung / Nein sagen:
„Ich bin stark, ich sag laut Nein!: So werden Kinder selbstbewusst“* von Susa Apenrade (ab 3 Jahren)
„Das große und das kleine NEIN“* von Gisela Braun (ab 3 Jahren)
Thema mutige Mädchen / Selbstbestimmung
„Tanga und der Leopard“* von Roberto Malo (ab 4 Jahren möglich, aber eher für ältere Kinder)
„Der geheimnisvolle Ritter Namenlos“* von Cornelia Funke (ab 3 Jahren)
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