
Familienzeit auf Anordnung: Wofür wir die „Corontäne“ nutzen sollten
Die Lage ist ernst. Daran besteht kein Zweifel. Und wir können froh sein, dass es Leute gibt, die den Laden noch am Laufen halten. Ärzte und Krankenschwestern müssen jetzt Leben retten, Polizisten das Kontaktverbot kontrollieren – aber Eltern, die das Glück haben, von zu Hause aus arbeiten zu können, haben jetzt auch eine wichtige Aufgabe: Die Bindung zu ihren Kindern zu stärken. Denn es stimmt: Corona schränkt das soziale Leben ein, Corona schadet der Wirtschaft. Aber von allen Ängsten und Einschnitten mal abgesehen, schenken uns die Umstände auch etwas: Zeit für die Familie.
Ich bin Tagesmutter und habe in meiner Gruppe dieses Jahr keine Kinder von Eltern in systemrelevanten Berufen. Somit ist die Betreuung in meiner Tagespflegestelle momentan auf Eis gelegt. Moritz hat das Glück, im Home Office arbeiten zu können. Damit haben wir es natürlich sehr komfortabel. Aber in vielen Familien hat gerade mindestens ein Elternteil mehr Zeit: Sei es durch Kurzarbeit oder durch die kleinen Freiräume, die sich im Home Office ergeben (können).
So verbringen wir jetzt also unsere Tage gemeinsam: Mama, ein bisschen Papa, der Große und die Püppi. Und ganz ehrlich? Wir genießen es. Denn wie oft ist das Elterndasein von Stress geprägt? Von Terminen in Kombination mit dem ganz normalen Alltagswahnsinn? Arbeiten, Einkaufen, Kochen, Waschen – dazu noch Streit schlichten, zum Fussballtraining fahren und Bücher vorlesen.
Zeit und Nähe – bindungsstärkende Geschenke
Dass Bund und Länder uns nun dieses Kontaktverbot auferlegt haben, macht es unumgänglich. Das Leben findet jetzt zu Hause statt. Keine Spieldates mehr, keine Kurse und leider auch keine Besuche bei Oma und Opa (was unsere Kinder ganz besonders schmerzt). Dafür aber eine Extraportion: Mama und Papa. Die Zapfsäule ist nun 24 Stunden am Tag geöffnet und ich habe das Gefühl, dass unsere Kinder dort ordentlich auftanken. Wir albern und kuscheln viel miteinander, machen kleinere Ausflüge – ganz nach dem Geschmack der Kinder.

Aber wir spielen auch ganz intensiv zusammen, was an manchen Tagen in unserem Alltag ehrlicherweise nicht so ist. Weil ich es manchmal wirklich ermüdend finde, jeden Tag aufs Neue SEK-Einsätze mit den Playmobilfiguren nachzuspielen oder das Puppenbaby im Arm zu wiegen. Durch den reduzierten Stress, das Fehlen der sozialen Pflichten, lädt sich mein persönlicher Akku gerade aber schneller wieder auf. Und weil meine Kraftreserven nicht ständig aufgebraucht sind, bin ich auch viel eher dazu in der Lage, die Reserven meiner Kinder durchs Spiel wieder aufzutanken.
Was hat das zur Folge? Sie sind ausgeglichener und mir sofort irgendwie „näher.“ Sobald ich mich intensiver auf die Rollenspiele einlasse, die sie mir vorgeben, merke ich, wie das unsere Bindung stärkt. Ich versuche deshalb schon länger, täglich mindestens 20 Minuten am Stück an ihrem Spiel teilzunehmen, ohne Ablenkungen oder Unterbrechungen. (siehe auch „Komm spiel mit mir“ – Wie Eltern sich im Spiel mit ihren Kindern (wieder) verbinden). Aber ich schaffe es lange nicht so oft, wie ich gerne würde.
In der Corontäne gelingt mir das schon besser. Und erstaunlicherweise lassen mich beide Kinder nach einer kurzen, aber intensiven Spielzeit, die wir gemeinsam verbracht haben, auch problemlos eine Weile für mich sein. Deshalb gibt es bei uns gerade, trotz des intensiven Aufeinanderhängens, relativ wenig Streit untereinander.
„Wie spät ist es eigentlich?“ Plötzlich ist der Druck weg!
Wir verstehen uns besser und sind geduldiger miteinander. Mir persönlich fällt das ganz Besonders beim Kochen auf – was ich wirklich hasse. Deshalb ist bei uns eigentlich auch Moritz der Koch. Aber jetzt gerade macht es mir sogar Spass. Wir kochen abends tatsächlich ganz bilderbuchmäßig alle zusammen (was wir sonst fast nie so machen). Der Große schnippelt mit Moritz das Gemüse, die Püppi steht mit mir am Herd.
Normalerweise macht es mich nervös, wenn der Kochvorgang zu lange dauert. Weil ich immer irgendwelche Uhrzeiten im Hinterkopf habe. Denn unsere Tage sind häufig durchgetaktet: Feste Aufstehzeiten, Mittagessen, Mittagsschlaf, Kurse, Verabredungen. Verzögerungen stellen mich vor zeitliche Probleme. Aber gerade ist es anders. Der (Zeit-)Druck ist raus. Und wenn die Püppi beim Umrühren nun den halben Pfanneninhalt auf der Herdplatte verteilt, stresst es mich plötzlich viel weniger, als sonst. Ich kann Dinge besser aushalten – weil sie mich in meinem Zeitplan nicht mehr zurückwerfen. Genau wie der Große. Er reagiert besonders sensibel auf Stress und schlechte Stimmungen (siehe auch: Streit vor den Kindern – Warum ich das nicht mehr will). Doch seit der Corontäne und der intensiven Zeit, die wir dadurch miteinander verbringen, ist er sehr viel milder. Zu uns. Aber auch zu seiner Schwester.
Wie Geschwister zu Kindergartenfreunden werden
Die Beiden haben sich schon immer gut verstanden und hatten viele liebevolle Momente miteinander. Aber durch die Corontäne hat ihre Beziehung noch einmal eine ganz neue Ebene erreicht. Ihnen fehlen die sozialen Kontakte: Der Große muss auf seine Kindergartenfreunde und die nachmittäglichen Spieltreffen verzichten. Die Püppi auf das Zusammensein mit den Tageskindern, die sonst jeden Vormittag bei uns zu Hause die Wohnung auf den Kopf stellen. Und doch haben sie nicht nur ihre Eltern, an die sie sich wenden können, wenn sie nicht mehr alleine Spielen möchten. Sie haben einander. Und das nutzen sie sehr intensiv. Trotz des Altersunterschiedes (sie ist zwei, er wird bald fünf) haben sie gemeinsame Aktivitäten gefunden, die sie verbinden. Die Püppi ist zum Beispiel eine ganz leidenschaftliche Puppenmama und war bisher nicht besonders zimperlich, wenn es darum ging ihre Babys zu verteidigen. Sie hat nur selten eines an ihren Bruder abgegeben. Doch in der gemeinsamen Zeit zu Hause hat es sich etabliert, dass sie nun gemeinsam Vater-Mutter-Kind spielen. Eine ihrer Puppen ist plötzlich standardmäßig ihrem Bruder vorbehalten. Sie feiern zusammen Puppengeburtstage, backen Geburtstagstorten aus Knete und fahren ihre Babys spazieren.

Im Alltag achte ich stark darauf, die Beiden verbal zu „verbinden“. Wenn ich merke, dass die Stimmung kippt und sich ein Streit anbahnt – weil die Püppi den Großen zum Beispiel nicht mit ihren Babys spielen lassen möchte – dann tröste ich ihn in ihrem Beisein mit der Erklärung, dass sie gerade wohl noch nicht bereit ist, ihre Puppe aus der Hand zu geben. Dass er das akzeptieren und erst einmal abwarten muss. Aber dass ich mir vorstellen kann, dass die Püppi ihn später doch noch mitspielen lässt, weil ihr das gemeinsame Spiel mit ihm in der Regel ja große Freude bereitet. Oft führt das dazu, dass sie ihren Bruder nach einer kurzen Weile tatsächlich von sich aus ins Spiel mit einbezieht. Die Püppi ist noch klein, deshalb klappt es bei ihr nicht immer. Andersherum meist schon. Ist das eine Beeinflussung meiner Kinder? Schon. Aber ich finde es in diesem Rahmen völlig legitim, da ich sie nicht emotional erpresse („Wenn du deinem Bruder die Puppe jetzt nicht gibst, dann will er irgendwann gar nicht mehr mit dir spielen und teilt umgekehrt auch nicht mit dir!“), sondern ihnen helfe, sich selbst in den Anderen hineinzuversetzen. Außerdem motiviere ich sie so dazu, sich selbst zu hinterfragen („Warum will ich die Puppen unbedingt für mich allein? Wäre es nicht vielleicht doch ein schönes Erlebnis, wenn wir gemeinsam damit spielten?“). Wichtig finde ich, dass alle Seiten aber auch akzeptieren, wenn das Kind bei seinem ursprünglichen „Nein“ bleibt. Denn das Ganze darf keine Einbahnstraße sein.
Dass die Beiden in der Corontäne so sehr zusammengerückt sind, führe ich aber auch darauf zurück, dass der Große ohne die täglichen Kämpfe unter Gleichaltrigen im Kindergarten viel weniger in Kampfstimmung ist. Wenn er aus der Kita nach Hause kam, merkte ich oft, dass er sehr ruppig und wild war. Er musste einen ganzen Vormittag angepasst sein, womöglich Dinge mitmachen, die er sich alleine nicht ausgesucht hätte. Der Kindergarten ist anstrengend. Er ist ermüdend und oft auch frustrierend. Dass sich der Große danach, bei uns zu Hause, wieder sicher genug fühlt, seine Gefühle voll auszuleben, ist für uns ein großer Vertrauensbeweis. Wir geben ihm den Halt, den er braucht – und nehmen deshalb auch in Kauf, als Ventil für seinen Frust und seine innere Unzufriedenheit herzuhalten.
Das führte aber oft dazu, dass die Püppi direkt eine innere Verteidigungshaltung annahm, wenn sich der große Bruder näherte. Er war nach dem Kindergarten einfach zu wild für sie. Somit kam es nicht oft zu solchen innigen, gemeinsamen Spielmomenten. Das ist jetzt anders. Durch die intensive Zeit sind sie aktuell komplett bei sich und dadurch auch beieinander. Eine wunderschöne Erfahrung – für beide Kinder. Und natürlich auch für uns als Eltern.
Coronazeit = Familienzeit
Um das klarzustellen: Hier herrscht nicht den ganzen Tag gute Laune. Auch wir streiten uns und sind genervt voneinander. Die Kinder liegen sich natürlich trotzdem täglich in den Haaren, wegen irgendwelcher Kleinigkeiten. Und mit Sicherheit kommt mir diese Zeit gerade auch nur deshalb so entspannt vor, weil ich nicht Home-Office und Kinderbetreuung unter einen Hut kriegen muss, wie viele andere Eltern gerade. Der Große ist auch noch kein Schulkind, ich muss mich also auch nicht mit seitenlangen Homeschooling-Aufgaben herumschlagen. Respekt an alle Mütter und Väter, die das gerade auch noch leisten müssen – zusätzlich zu Arbeit und dem ganz normalen Wahnsinn. Ich kann mir gut vorstellen, dass das kräftezehrend ist. Und dass man diese Zeit unter solchen Umständen vielleicht weniger genießen kann, als ich gerade. Aber wir sollten uns alle bewusster machen, was diese Zeit gerade ist: Eine Chance.
Auch für die Arbeitskultur in Deutschland, denn die Krise macht plötzlich möglich, dass Arbeitnehmer flexibel und ortsunanbhängig arbeiten. Dass es umweltfreundlicher ist, die Konferenz per Videochat zu halten, anstatt sich dafür einen Flieger zu setzen, steht außer Frage. Home Office hilft aber auch noch dabei, Familie und Arbeit besser zu vereinbaren und ist somit auch eine Chance, das Familienleben wieder neu zu entdecken. Eltern können wieder mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen – indem sie gemeinsame Pausen einbauen oder bestimmte Aufgaben in den Abend verlagern, um tagsüber gemeinsame Zeit zu verbringen. Der Arbeitsweg fällt auch weg: In unserem Fall macht das einen Zeitgewinn von fast zwei Stunden täglich aus, da Moritz´Arbeitsplatz 70 Kilometer entfernt ist. Deshalb macht mobiles Arbeiten verschiedenen Studien zufolge auch zufriedener. Dennoch war es in Deutschland vor der Krise eine Ausnahme, nicht die Regel.
Corona ist ein Drama, aber die Situation ist eine Chance. Vor Allem für Familien. Wir sollten sie nutzen. Denn Corona entschleunigt zwangsläufig und läutet eine ganz neue Zeit ein. Eine Zeit, in der Fremde solidarisch auf Abstand gehen – Familien aber umso mehr zusammenrücken.
Habt Euch lieb!
Eure Jasmin
Titelbild von congerdesign auf Pixabay


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